Neue Lebenswelten gesucht
Fast 70 Prozent der Weltbevölkerung werden 2050 in urbanisierten Regionen leben. So lautet die Prognose der Vereinten Nationen (UN), die Städte als favorisierten Lebensraum der Zukunft ausweist. Gleichzeitig könnten durch den Klimawandel, steigende Meeresspiegel, Dürreperioden und extreme Wetterereignisse große Teile der Kontinente unbewohnbar werden. Genau darauf bereiten sich einige Städteplaner und Architekten vor. Ihre Entwürfe erinnern an Science-Fiction, könnten aber bereits in einigen Jahre Realität werden. Der Bau des kontroversen Mammutprojekts „The Line“ beispielsweise hat bereits begonnen.
Lineare Stadt mitten in der Wüste
„The Line“ – ein massives Bauwerk, das 200 Meter breit, 500 Meter hoch und 170 Kilometer lang werden soll, entsteht derzeit im Nordwesten von Saudi-Arabien. Nach der Fertigstellung wird es sich von der Küste des Roten Meeres quer durch die Nefud-Wüste ziehen. Neun Millionen Menschen sollen in der verspiegelten Stadt eine neue Heimat finden. Einkaufsmöglichkeiten, Freizeitgestaltung und Arbeit: Alles soll in der Stadt für die Bewohner:innen innerhalb von fünf Minuten erreichbar sein – ohne die Notwendigkeit eines eigenen Autos. Der gesamte Entwurf ist auf Nachhaltigkeit und Autarkie ausgelegt. So sollen erneuerbare Quellen Energie sowie Gärten die benötigten Lebensmittel liefern und Entsalzungsanlagen Meerwasser in Trinkwasser verwandeln.
Doch bereits jetzt gibt es deutliche Kritik an dem Vorhaben. Beobachter:innen befürchten negative Auswirkungen auf die Tierwelt und die Menschen, die im Gebiet der geplanten Megastadt leben, sowie eine starke Überwachung der Bewohner:innen von „The Line“ durch das saudi-arabische Regime. Und auch die Umsetzbarkeit des Bauvorhabens wird bezweifelt – etwa von Professor John E. Fernández, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) die Umsetzungsmöglichkeiten für umweltfreundlichere Städte erforscht. „Wenn man mir sagen würde, dass eine Stadt gebaut werden soll, die auf passive Belüftung, erneuerbare Energie und Geothermie setzt, wäre ich ganz Ohr“, so Fernández im Gespräch mit dem Nachrichtenportal Futurezone, „aber für wirklich nachhaltige Städte braucht es auch immer eine Form von reduziertem Verbrauch. Und das kann ich mir bei ‚The Line‘ nicht vorstellen.“
Modulares Wohnen auf dem Wasser
Nicht nur der Verbrauch von Städten stellt in Zukunft eine Herausforderung dar – schon heute sind Küstenstädte wie New Orleans oder Mumbai vom steigenden Wasserpegel bedroht. Marc Collins Chen will mit seinem Start-up Oceanix aber nicht gegen das Wasser kämpfen, sondern sich vielmehr an die neuen Gegebenheiten anpassen: „Wenn es um den Anstieg des Meeresspiegels geht, haben Küstenstädte grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Sie können eine große Mauer errichten, die aber wahrscheinlich nie hoch genug sein wird. Oder sie schauen sich die neueste Technik an, die an Ort und Stelle treibt.“ Technik, die Oceanix entwickelt. Vor zwei Jahren hat das Unternehmen gemeinsam mit dem dänischen Architektenbüro Bjarke Ingels Group und mit Unterstützung der UN ein erstes Konzept vorgestellt. Es sieht künstliche, dreieckige Inseln mit einer Größe von jeweils zwei Hektar vor, die bis zu 300 Menschen beherbergen können. Diese Inseln lassen sich modular zu Dörfern und Städten verbinden – die erste Stadt soll bereits bis 2025 im südkoreanischen Busan entstehen. Algenfarmen und Hydrokulturgärten sollen einen Teil der Nahrung vor Ort produzieren. Erneuerbare Energien, ein zirkulierendes Müll- und Abwassersystem und nachwachsende Baumaterialien wie Bambus sind ebenfalls Teil des nachhaltigen Konzepts.
Damit die Stadt auf dem Meer selbst Tsunamis standhalten kann, wollen die Architekten die schwimmenden Bauelemente durch sogenannte Biorocks verstärken. Diese sollen Mineralien im Wasser mithilfe von elektrischem Strom anregen, eine extrem harte Kalksteinschicht auf den Metallwänden der Plattformen auszubilden.
Obwohl das Leben im Einklang mit den Elementen vielversprechend klingt, gibt es für die schwimmenden Städte vor allem rechtliche Hürden. Denn Häuser auf dem Wasser haben derzeit nicht denselben Status wie Immobilien an Land. Bei Themen wie Rechtsprechung und Nationalität der Seebewohner:innen in internationalen Gewässern gibt es ebenfalls noch erheblichen Entwicklungsbedarf. Prototypen werden aber trotzdem bereits umgesetzt, wie die Wasserstadt auf den Malediven, die der niederländische Architekt Koen Olthuis aktuell baut. „Maledives Floating City“ entsteht dabei unabhängig vom Oceanix-Projekt.
Schutz vor Extremwetter und Smog unter der Erde
Die Entwürfe des mexikanischen Architektenbüros BNKR zeigen ein ganz anderes Konzept für die Stadt der Zukunft – es setzt auf sogenannte Earthscraper. Dabei handelt es sich um eine umgekehrte Pyramide, die rund 300 Meter und bis zu 65 Stockwerke in die Tiefe ragt. Der obere Teil wird mit Tageslicht und künstlich angelegten Terrassen beleuchtet. Im unteren Teil muss künstliches Licht eingesetzt werden. Den Architekten zufolge könnte der Earthscraper rund 5000 Menschen beherbergen – und ihnen zudem noch Raum zum Arbeiten und für kulturelle Events bieten. Realisiert wurde das Konzept bislang nicht. Expert:innen wie François Mancebo, Professor für Planung und Nachhaltigkeit an der Universität Reims, sehen im Konzept des umgekehrten Wolkenkratzers allerdings viele Vorteile: Insgesamt gilt der Entwurf als weniger anfällig für Sonneneinstrahlung, Wind, Regen und seismische Aktivitäten. Zudem könne der Bedarf der in ihr lebenden Menschen an Heiz- und Kühlenergie reduziert werden, da schon wenige Meter unter der Erde eine weitestgehend konstante Temperatur herrscht. Ein Prinzip, das sich auch Erdwärmepumpen zunutze machen.
Unterirdische Städte müssen sich aber auch großen Herausforderungen in Bezug auf die Lebensqualität stellen. Vor allem die Lichtsituation sei entscheidend. Professor Mancebo sieht die Lösung in einer Kombination aus Tages- und Kunstlicht, das sich nicht nur der Tageszeit, sondern auch der Jahreszeit anpasst. Was die Bepflanzung angeht, bieten sich beispielsweise Farne an, da diese wenig Ressourcen und Betreuung brauchen. Dass sich mithilfe von Hydrokultur unter anderem Gemüse auch unter der Erde anbauen lässt, sei bereits gut erforscht.
Nicht nur neue Städte verändern sich
Wo wir in Zukunft leben werden und wie die Visionen der Architekten unsere Lebensqualität beeinflussen, wird sich zeigen. Aber nicht nur neue Städte können nachhaltig und klimafreundlich sein – auch bereits bestehende. Dafür sind allerdings einige Veränderungen nötig. Professor Fernández vom MIT sieht positiv in die Zukunft: „Bis 2023 werden die meisten Städte Regelungen durchgesetzt haben, um ihren CO2-Ausstoß zu senken. Auch der Transport wird sich in Richtung E-Fahrzeuge verändern – vom E-Scooter bis hin zum E-Auto.“ Smart-City-Konzepte, erneuerbare Energien und Kreislaufwirtschaft tragen ebenfalls zum positiven Wandel bei. Ein Wandel, den enercity in Hannover durch zahlreiche Projekte wie etwa den konsequenten Kohleausstieg und den Ausbau des Fernwärmenetzes sowie der Ladeinfrastruktur für E-Fahrzeuge unterstützt. So werden auch die Städte von heute Stück für Stück zukunftsfähig. Denn die Zukunft beginnt meist direkt vor der eigenen Haustür.
Weitere spannende Entwürfe für die Städte der Zukunft finden Sie hier.
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