„Für die Zukunft müssen die Konzepte stimmen“
Herr Thomsen, Sie sind Zukunftsforscher. Über welchen Zeitraum denken Sie nach?
Über die kommenden 520 Wochen, also zehn Jahre. Das ist ein Zeitraum, den wahrscheinlich die meisten von uns noch aktiv mitgestalten können und erleben werden. Auch als Kontrast zu dem, was wir im Alltag machen: Häufig denken wir darüber nach, was wir diese Woche noch machen müssen oder was in den nächsten ein, zwei Wochen ansteht. Die größten Chancen werden in einem mittellangen Zeitraum manchmal gar nicht erkannt, weil wir zu stark gegenwartsorientiert arbeiten und leben. Das ist auf jeden Fall leitender, als wenn man ganz weit in die Zukunft schaut und sagt: „Ich denke an das Jahr 2100.“ Wir sollten also den Zeitraum betrachten, den wir mitgestalten können.
2010 lag der Anteil der erneuerbaren Energien bei der Stromversorgung in Deutschland bei etwa 17 Prozent. 2020 lag dieser Anteil bereits bei 46 Prozent. Wie schnell wird diese Entwicklung weitergehen?
Die Dynamik ist nach wie vor da, und sie wird tatsächlich auch durch einen ökonomischen Trend unterstützt. Es war noch vor zehn Jahren so, dass erneuerbare Energien nicht unbedingt wirtschaftlich waren, aber man wollte das politisch bzw. aus Umweltgesichtspunkten. Jetzt kommt hinzu, dass in vielen Ländern die Erzeugung von elektrischem Strom mit erneuerbaren Energien de facto günstiger geworden ist als das Verbrennen von fossilen Brennstoffen. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. Wie das aber bei allen Trends ist, haben wir eine S-Kurve; das heißt, wir haben einen Zeitraum, in dem eine Entwicklung langsam anfängt, dann jedoch recht schnell ansteigt. Nähert man sich einer hohen Zahl an – 80 oder 90 Prozent –, wird es extrem schwierig, die letzten 20 oder zehn Prozent wirklich noch umzustellen. Denn es kommen Fragen dazu, wie man diese Energie vernünftig kurzfristig oder sogar saisonal speichert, wie man das Netz auch so gestalten kann, dass es mit diesen hohen Fluktuationen, die Erneuerbare nun mal mit sich bringen, am besten umgeht. Gegen Ende des Jahrzehnts wird man sich um die letzten 20 bis 25 Prozent kümmern müssen. Die werden noch mal mit Kopfschmerzen verbunden sein, denn dann müssen wir tatsächlich mehr machen.
Denkbar ist auch, dass erneuerbare Energien so günstig werden, dass wir weit mehr installierte Kapazität haben, als wir in der Regel nutzen können. Dann werden etwa adressierbare Speicher, ob in Form von stationären Batterien oder Lastwagenbatterien oder E-Autos, noch interessanter werden, weil wir darüber nachdenken müssen, wie wir Überschussstrom speichern, damit wir ihn nutzen können, wenn wir mehr brauchen.
2018 streikte Greta Thunberg das erste Mal fürs Klima und verlieh der Klimaschutzbewegung neuen Schwung. Wie können wir diese Kraft gesellschaftlich speichern und nutzen?
Da ist in weniger als 150 Wochen ein Sinneswandel eingetreten. Anfang der 2000er-Jahre hatte man große Ziele. Dann schien es, als hätten wir wieder vergessen, warum wir das alles machen. Manchmal brauchen wir als Gesellschaft, als Weltgemeinschaft wieder einen Anstoß, der uns aufweckt und uns daran erinnert: Wir sind noch nicht da, wir sollten uns die Daten der Wissenschaft angucken und mit Kreislaufwirtschaften arbeiten, um die Erde zu erhalten. Greta hatte nicht nur Einfluss auf die deutsche oder europäische Energiepolitik, sondern weltweit. Menschen und Regierungen sagten: „Ja, wir müssen jetzt wirklich ernst machen, wir müssen uns mit dem Thema auseinandersetzen.“ In der Zukunftsforschung sprechen wir oft von solchen „Tipping Points“, also von Ereignissen, die unsere Denkweise verändern und eine neue Weltanschauung auslösen. Gretas Streik war der letzte wichtige Tipping Point.
Sie haben mal gesagt, dass die 20er- und 30er-Jahre des 21. Jahrhunderts die wichtigsten Innovationsjahre sein werden und auch sein müssen. Welche Entwicklungen erwarten Sie in den kommenden zehn Jahren? Welche sind erreichbar? Und was wird wahrscheinlich länger dauern?
Das Spannende ist: Innovation hat eigentlich immer nur das Ziel, eine effizientere Art für die Lösung einer Aufgabe oder eines Problems zu finden. Es ist also die ständige Suche nach dem Besseren. Eine Innovation, die dies nicht schafft, wird sich nicht durchsetzen können. Das kann man auf ganz viele Dinge anwenden: Energie, Mobilität, die Erzeugung von Nahrungsmitteln, Medizin. Die Frage lautet: „Ist das, wie wir es zurzeit machen, die wirklich beste Art und Weise, oder geht es günstiger, effizienter, nachhaltiger, innovativer?“ Das Internet hat in den letzten Jahren die Innovationsgeschwindigkeit deutlich erhöht, weil weiterdenkende Menschen sehr schnell andere Menschen mit Wissen, Kapital oder ähnlichen Ideen erreichen können, um Innovationen anzustoßen.
Die 2020er-Jahre zeigen, dass wir jetzt sogar noch künstliche Intelligenz dazubekommen, also sehr potente Werkzeuge, um Innovationen auch schnell umzusetzen. Wer vor 20 Jahren eine gute Idee hatte, der konnte die noch lange nicht umsetzen, denn er oder sie wusste gar nicht, wo die anderen Menschen sind, die man braucht, um diese Idee gemeinsam anzugehen. Man hatte Schwierigkeiten, eine Finanzierung dafür zu finden. Heutzutage geht das manchmal innerhalb weniger Tage. Wir merken, dass viele Industrien derzeit sehr nervös werden, weil sie bisher dachten, dass ihre Erfahrung und Größe sie vor neuen Mitbewerbern schützen würde. Aber plötzlich kommt eine Truppe von jungen Menschen, die sagt: „Wir haben einen ganz neuen Ansatz, und das geht besser, schneller und günstiger.“
Welche Entwicklungen sind in den nächsten zehn Jahren im Energiesektor denk- und erreichbar?
Ein wichtiger Megatrend wäre, dass sich das Energienetz mit dem Internet verheiratet und zu einem „Internet der Energie“ wird. Dies ist sozusagen die nächste Ausbaustufe des „Internets der Dinge“, in dem immer mehr ganz alltägliche Geräte und Sensoren in unserem Leben zukünftig vernetzt sind. Wenn Sie sich ein neues E-Bike kaufen, hat dies bereits oft eine App, mit der Sie schauen können, wie voll der Akku ist. Ein E-Auto weiß jederzeit, wie viel Batteriekapazität im Moment noch vorhanden ist, wann es wieder laden muss und auch wo es wieder laden kann.
Bei Häusern oder dem Smart Home ist es ähnlich. Ein Smart Home ist nicht nur eine Ansammlung von übereinandergestapelten Steinen, in denen Menschen leben, sondern eine intelligente Einheit. Es erzeugt Energie, es speichert Energie, es verbraucht Energie. Da gibt es eine Solaranlage auf dem Dach, einen Speicher – ganz gleich, ob das ein thermischer Speicher, eine Batterie oder ein E-Auto ist –, und es gibt Verbraucher. Sobald das Internet der Dinge dazukommt, kann dieses Haus mit- und vordenken und planen, was mit der Energie passiert, die über die Solaranlage erzeugt wird. Wird diese ins Netz eingespeist oder erst mal lokal gespeichert? Das Energienetz vor 20 Jahren war davon geprägt, dass wir einige Hundert Kraftwerke hatten und Millionen von Verbrauchern. Jetzt haben wir Millionen von Kraftwerken und Speichereinheiten und nicht nur Konsumenten, sondern auch Prosumenten, also Menschen, die bei der Energieerzeugung mitmachen. Vielleicht nennen wir es zukünftig das „Internet der Energie“.
Das ist natürlich für Energieversorger eine große Herausforderung, denn es entstehen vollkommen neue Geschäftsmodelle. Man muss sich überlegen, dass man nicht nur selbst der Produzent von Strom ist und diesen verkauft, sondern dass man eine andere Kundenbeziehung hat. Es gibt wahrscheinlich ganz andere Preismodelle, denn der Preis wird je nach aktuellem Angebot und Nachfrage variieren.
Das zweite Thema sind Energiespeicher. Bei erneuerbaren Energien ist es enorm wichtig, dass wir neben dieser Intelligenz, von der ich gerade gesprochen habe, eine Möglichkeit haben, Energie auch mal zwischenzuspeichern. Speicherung ist für Menschen etwas ganz Normales.
Zu Energiespeichern gibt es viele Analogien aus der Vergangenheit. Schon vor Hunderten von Jahren haben Menschen die Kälteenergie im Winter gespeichert und mit in den Sommer genommen, indem sie Eisblöcke ausgesägt und damit im Sommer das Bier gekühlt haben. Sie haben Getreide in Speicher gefüllt, damit sie in der Zeit ohne Ernte trotzdem genügend davon hatten, um Brot zu backen.
Jetzt fangen wir an, über Energiespeicher im 21. Jahrhundert ganz neu nachzudenken. Wie können wir Energie kurzfristig speichern, wie können wir sie vielleicht sogar aus dem Sommer mit in den Winter nehmen? Das ist ein großes Thema, denn die Sommer werden immer heißer, und wir brauchen vielleicht die Kühle des Winters, um dahin zu kommen. Darum entwickelt sich ein riesiger Innovationswettbewerb um intelligente Speicherlösungen. Die Energieversorger werden einen großen Part übernehmen, denn die Lösungen müssen für alle Beteiligten dienlich sein, die am Energienetz hängen. Die Batterie ist ein wichtiger Teil, es wird aber fast zu viel Fokus darauf gelegt und gesagt, dass Batterien die einzige Speicherform seien. Dabei geht es um adressierbare Energiequellen. Ein Kühlhaus zum Beispiel könnte – wenn man weiß, dass es im Moment sehr viel Energie im Netz gibt – einfach zwei Grad kühler werden und dann aber zwölf Stunden lang durch die gute Isolierung gar keine Energie mehr verbrauchen. Die Integration solcher Speicher ist eines der großen Themen der 2020er-Jahre.
Sie haben gerade von der Entwicklung von Konsumenten zu Prosumenten gesprochen und das Internet der Dinge erwähnt. Sie sehen Energieversorger in einer neuen Verantwortung? Müssen diese sich etwa neu erfinden?
Ganz neu erfinden müssen sie sich nicht, aber sie müssen sich weiterentwickeln. Das Netz, das Energieversorger haben, das Know-how, die Infrastruktur, die Daten und die Kundenbeziehungen sind unglaublich viel wert. Jetzt kommen aber beim Thema Daten ganz neue Fragen hinzu. Beispiel Datenschutz: Ein intelligentes Haus, ein Smart Home, kann eine ganze Reihe von Mustern erkennen, um mit künstlicher Intelligenz enorm viel über Sie und Ihre Persönlichkeit herauszufinden. Fast jeder Haushalt hat ein eindeutiges Profil, und mit einem Smart Meter kann man ziemlich genau sehen, wie häufig dort zum Beispiel die Kühlschranktür am Tag auf- und zugemacht wird.
Man kann aber auch Muster erkennen, wann die Menschen nach Hause kommen, wann sie morgens aus dem Haus gehen, wohin und wie weit das Elektroauto am Tag fährt. Dies ist zwar sensibel, aber enorm viel wert, wenn man beispielsweise das E-Auto als intelligenten Speicher für das Netz nutzen möchte und um gleichzeitig günstigere Tarife für die Kundinnen und Kunden zu entwickeln. Es wird sehr wichtig sein, dieses Vertrauensverhältnis, das Energieversorger derzeit mit ihren Kundinnen und Kunden haben, auf das Thema Datensicherheit zu übertragen. Denn bevor irgendeine Datenkrake aus Silicon Valley weiß, wie mein Leben läuft – ich überzeichne bewusst –, will ich diese Daten vielleicht lieber in den Händen einer Instanz wissen, die vernünftig damit umgeht.
Es ergeben sich für Energieversorger daraus auch ganz neue Geschäftsmodelle: Wenn jemand das möchte, schauen wir fast automatisch, ob alles normal ist. Und wenn etwas nicht normal sein sollte, dann kümmern wir uns darum. Also wenn man zum Beispiel eine elektronische Wasseruhr hat und das Warmwasser länger als eine halbe Stunde läuft, dann könnte das ein Zeichen sein, dass irgendwas kaputt ist oder sogar jemand gegebenenfalls dringend Hilfe benötigt. Ein fürsorglicher „Versorger“ könnte dann aufgrund dieser Daten einfach mal kurz anrufen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist, oder über den Bewegungsmelder überprüfen, ob jemand derzeit im Haus ist, um zur Not jemanden vorbeizuschicken, der nach dem Rechten schaut.
Gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels kann dies eine sinnvolle Dienstleistung in Zukunft werden. Man könnte dann mit einem Haushalt noch mal 20 Euro mehr im Monat verdienen, einfach weil jemand sagt: „Diese Sicherheit hätte ich gerne, und ich wäre sogar bereit, dafür zu bezahlen.“ Der zweite Punkt ist: Obwohl man als Energiedienstleister vielleicht etwas verliert, wenn Kunden zu Energieproduzenten mit eigener Solaranlage werden, kann man als Netzbetreiber doch mit einem solchen Modell gewinnen.
Zudem werden wir zukünftig viel mehr mit Strom statt mit fossilen Brennstoffen betreiben. Allein wenn jemand sich ein Elektroauto zulegt, was derzeit bereits rund 20 Prozent aller Neuwagenkäufer machen, verdoppelt sich der Stromverbrauch praktisch vom einem auf den anderen Tag. Also wenn man vorher einen Diesel oder einen Benziner hatte, dann hat man das Geld zur Tankstelle getragen. Wenn man jetzt einen Elektrowagen hat, bekommt dieses Geld der Energieversorger, weil man die Energie eben von einem anderen Energieproduzenten bezieht. Es gibt also viele Chancen. Aber es bedeutet für Energieversorger, die Kundenbeziehungen tatsächlich neu zu überdenken.
Thema E-Mobilität: Was muss sich hinsichtlich Akkukapazitäten und Ladestruktur tun?
Das Interessante an Trends ist, dass sie selten linear verlaufen, sondern teilweise sogar so eine gewisse Exponentialität haben. Und bei der Elektromobilität erleben wir seit ungefähr sechs Jahren eine recht starke exponentielle Entwicklung. Am Anfang merkt man das nicht so stark, da liegt der Anteil von Elektroautos vielleicht bei einem Prozent, ein Jahr später bei zwei, dann bei vier, dann acht Prozent. Und tatsächlich ist für mich das Thema Elektromobilität eigentlich schon in dem Sinne durch, dass es keine Frage mehr ist, ob sie sich durchsetzen wird. Die Zuwächse bei der E-Mobilität liegen derzeit bei etwa 100 Prozent: Wir sind jetzt bei zweistelligen Prozentzahlen der Neuzulassungen. Das heißt, mindestens jede fünfte Konsumentin, jeder fünfte Konsument entscheidet sich für ein Elektroauto, Tendenz weiterhin steigend mit 100 Prozent. Das hat auch damit zu tun, dass die Preise jetzt sinken. Die Autos werden günstiger und haben von Jahr zu Jahr mehr Reichweite. Ich bin der Meinung, dass 2021 ein Tipping Point ist, an dem jeder vernünftige Mensch, auch wenn man den Umweltaspekt vollkommen außer Acht lässt, auf den Elektrowagen gehen wird, einfach weil er in der Summe günstiger ist. Er bietet mehr Fahrspaß. Das weiß jeder, der mal mit einem Elektroauto gefahren ist.
Aber Sie sprechen zu Recht das Thema Ladeinfrastruktur und öffentliche Ladestruktur ein. Das ist noch eine große Herausforderung. Nicht jede und jeder hat einen eigenen Stellplatz und kann dort eine Wallbox oder eine Ladestation installieren. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die den Wagen am Straßenrand parken und sagen: „Wo soll ich laden?“ Und das wird die nächsten Jahre stark prägen. Aber auch hier: Die Ladegeschwindigkeiten, mit denen man aufladen kann, steigen. Auf langen Strecken können Sie davon ausgehen, dass Sie auf 1000 Kilometer weniger als eine Stunde brauchen, um den Wagen nachzuladen. Aber es ist schon wahr: Im Moment sind wir an einem Punkt, an dem die Ladeinfrastruktur massiv ausgebaut werden muss, vor allem die Schnellladeinfrastruktur, aber eben auch die urbane Ladestruktur für diejenigen, die keine eigenen Stellplätze haben. Ich gehe davon aus, dass es in fünf Jahren komplett normal sein wird, dass, wenn man in eine Parkgarage fährt oder man in ein Hotel kommt, das Laden des Autos ebenso normal ist, wie heute nach dem WLAN-Code zu fragen.
Zahlreiche Städte wollen ökologische Nachhaltigkeit sowie eine digitalisierte Gesellschaft und Verwaltung erreichen. Wie kann das gelingen?
Das ist eher ein Prozess als ein harter Umbruch. In Kopenhagen und anderen Städten etwa existieren seit vielen Jahren Modelle, um zu sehen, wie man eine Stadt menschenfreundlicher machen kann. Das ist immer ein gesellschaftlicher Konsensprozess. Wenn man Menschen sagt „Ihr dürft jetzt nicht mehr mit dem Auto in die Innenstadt fahren“, sind nicht alle glücklich. Man muss eine Zeit lang beobachten, ob die Menschen letztlich sagen: „So ist es besser, ich finde es schöner, ich bin bereit, das Auto stehen zu lassen und mit dem Fahrrad oder den Öffis zu fahren.“ Das ist ganz wichtig in politischen oder auch Innovationsprozessen. Innovation wird sich langfristig nur durchsetzen und nachhaltig sein, wenn Menschen tatsächlich der Meinung sind, dass es besser ist als vorher. Diese Idee, dass wir auf Dinge verzichten und sagen „Wir sind bereit, ein schlechteres Leben als noch vor zehn Jahren zu führen“ – das ist Quatsch. Und darum müssen die Konzepte stimmen.
Eine Stadt oder Gemeinde hat eine Verpflichtung gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern, eine aktive, attraktive Gemeinde zu sein, aber sie muss natürlich auch etwa für Geschäfte und für Ansiedlungen oder für Unternehmen attraktiv sein. Ziel ist, dass alle sagen: „Dort wollen wir leben und arbeiten.“ Die innovativsten Städte überlegen und planen derzeit sehr genau, um diese Lebenswertigkeit zu erhöhen und gleichzeitig so attraktiv für Unternehmen zu sein. Das Spannende ist, dass Städte dabei zu Markenprodukten werden. Sie werden ein eigenes Konzept. Genauso wie man heute die Wahl hat, verschiedene Produkte zu kaufen, die für gewisse Qualitäten oder Werte stehen, werden sich zukünftig viele Bürgerinnen und Bürger aussuchen, wo sie zukünftig leben und arbeiten wollen. Sie suchen sich also sehr aktiv das Umfeld aus. Menschen gehen in Städte, die sie lebenswert finden. Und dann kommen die Firmen und sagen: „Da sind die Menschen, die wir brauchen, die für uns arbeiten sollen, also gehen wir auch dorthin.“
Und darum ist Stadtpolitik bzw. Entwicklungspolitik in Städten so wichtig, weil man langfristig eigentlich attraktive Orte und Marken schaffen muss, wo sich sowohl Menschen als auch Unternehmen wohlfühlen. Und letztlich ist es ein demokratischer Prozess, denn wenn man irgendetwas macht und die Menschen sagen, dass etwas überhaupt nicht klappt – man steht immer im Stau, es ist zu laut etc. –, gehen erst die Menschen weg, und dann gehen die Firmen weg. Ich glaube, wir realisieren gerade, dass Städte eine enorme Verantwortung haben, nicht nur einfach zuzuschauen, sondern aktiv mitzugestalten, wie das Leben, die Mobilität, die Kultur, die Lebenswertigkeit unserer Stadt aussieht. Und das kann man nicht dem Zufall überlassen, das muss man tatsächlich in einem engen Abstimmungsprozess mit allen Beteiligten gemeinsam diskutieren. Kein einfacher Prozess, aber der findet statt. Und wir sehen, dass die Städte sich immer stärker differenzieren.
Wer sind denn die wichtigsten Beteiligten in dem Zusammenhang?
Eigentlich sind es wirklich alle. Auch wenn das jetzt merkwürdig klingt. Es beginnt bei den Bürgerinnen und Bürgern, aber es geht zum Beispiel auch um die städtischen Betriebe oder um die Baudirektion. Es geht darum, die größeren Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in einer Stadt miteinzubeziehen, was deren Bedürfnisse sind. Ich glaube, man kann nicht davon ausgehen, dass das alte Prinzip, dass wir sagen, wir wählen eine Politikerin oder einen Politiker, und der oder die macht das dann schon, das richtige Konzept ist, sondern es braucht einen Diskurs darüber, wo wir hinwollen.
Es braucht eine Vision, die von Menschen entwickelt werden muss: Wo wollen wir in zehn, 20 oder 30 Jahren sein? Es braucht auch langfristige Ziele: Wir wollen 2050 als Stadt komplett CO₂-neutral sein. Denn das kann man nicht in einem Jahr erreichen. Da müssen dann alle mitziehen. Das gilt für die Stadtwerke genauso wie für die ansässige produzierende Industrie und für die Mieterinnen und Mieter oder Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer, die ihre Häuser entsprechend umbauen müssen.
Haben Energiedienstleister eine Schlüsselposition inne?
Ja, absolut. Nimmt man das Wort „Versorger“, kann man diesen Begriff durchaus erweitern um Mobilität, um Sicherheit, auch um die Frage, ob man diese Ziele, die man sich selbst mit CO₂-Neutralität gesetzt hat, umsetzen kann. Das Gute ist, dass die Versorger in der Regel schon bestens in kommunalpolitische Gremien eingebunden sind, in einen Diskurs mit Bürgerinnen und Bürgern. Das sollte in den nächsten Jahren verstärkt werden. Energiedienstleister könnten eine moderierende Rolle einnehmen.
Die Diskussion um die richtigen Schritte und die richtigen Zeiträume erscheint oftmals fast schon angstgetrieben, wenn nicht gar moralinsauer. Wie kann man die Diskussion sinnlicher, erfahrbarer machen?
Ich habe dafür keine Patentlösung. Ich glaube, dass Veränderungen insgesamt nicht einfach sind und auch bei vielen Menschen unterschiedlichste Formen von Ängsten auslösen. Vielleicht war das sogar überlebenswichtig in der Vergangenheit, denn wenn man gesagt hätte „Lasst uns Veränderungen immer sofort umsetzen“, dann wären wir wahrscheinlich nie so konzentriert gewesen, auch längerfristige Dinge zu tun. Das ist ein schwieriger Prozess. Es beginnt mit einer Vision, der Menschen gern folgen möchten.
Ich glaube, wir müssen, gerade wenn es darum geht, uns unsere Zukunft auszudenken, zu einer anderen Diskussionskultur kommen. Mich nervt es oftmals, wenn ich die Diskussionen im Fernsehen sehe, dass es oftmals darum geht, wer Schuld an dem Status quo hat. Ich würde mir vielmehr wünschen, dass wir gemeinsam eine Vision entwickeln – etwa für unsere Stadt und wie wir gerne leben möchten –, wobei man auch ein bisschen Zeit hat, sich vorzustellen, ob das schön oder blöd wäre. In einer Demokratie ist es sehr wichtig, Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Ängste zu äußern, ihre Sorgen, aber eben auch positive Dinge zu formulieren.
Wenn Sie sich eine Zukunft wünschen könnten, wie sähe die aus?
Ein wichtiger Schritt ist, dass wir die Lebensgrundlagen erhalten, die wir derzeit haben, damit wir tatsächlich noch die Option haben, unsere Welt gestalten zu können. Ich sage das mit Absicht so drastisch. Wenn wir noch 20 Jahre so weitermachen, wie wir in den letzten 50 Jahren gewirtschaftet haben – es geht nicht nur um Energie, sondern auch um die Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren, wie der Boden degradiert, wie wir mit den Weltmeeren umgehen –, dann werden wir gar nicht mehr die Wahl haben, wie wir das gestalten wollen.
Wir müssen jetzt relativ schnell vernünftig werden und sagen: „Wir erhalten unsere Lebensgrundlagen!“ Denn dann stehen uns alle Optionen offen. Und ich glaube, dass wir in den 2020er-Jahren ein sehr mächtiges neues Werkzeug finden werden, und das ist die künstliche Intelligenz, die die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten und unser Leben gestalten, sehr stark beeinflussen wird. Auf der einen Seite bin ich hoffnungsvoll, dass wir damit ganz neue Formen der Arbeit finden werden, also dass wir nicht mehr unser Tun dadurch messen, wie viele Stunden wir an einer Tastatur gesessen haben, sondern mehr Kreativität, mehr Gestaltungsfreiräume bekommen für unser Leben. Auf der anderen Seite wird es enorme gesellschaftliche Veränderungen bringen, die nicht allen schmecken werden.
Mein Zukunftsbild ist also nicht nur rosarot oder mit weißen wunderschönen Wölkchen. Ich bin, was die Zukunft angeht, auf der einen Seite sehr hoffnungsvoll, denn wir können die Probleme, die wir heute haben, gut lösen. Viele der Dinge, an denen die Leute fast verzweifeln und sagen „Wir werden den Klimawandel niemals stoppen können!“. Aber nach allen Gesetzen der Logik und den Fakten kann ich erwidern: „Doch, können wir.“ Wir können, wenn wir wollen, sogar CO₂ aus der Atmosphäre aktiv wieder herausholen – allerdings wäre das viel teurer, als es derzeit gar nicht zu emittieren.
Aber die Veränderungen in der Gesellschaft werden in den nächsten zehn bis 20 Jahren so immens werden, dass wir dabei auch eine ganze Reihe von frustrierten Menschen haben werden, die sagen: „Früher war alles besser, ich finde meine Rolle nicht mehr in der Gesellschaft.“ Und das hat enormes gesellschaftliches Sprengpotenzial, auch was die politische Landschaft angeht. Denn ich meine, nichts ist schlimmer, als Menschen zu haben, die sauer sind, die verzweifelt sind, die sich missverstanden oder missrepräsentiert fühlen. Insofern glaube ich, wir müssen in den 2020er-Jahren neben der ganzen technologischen Revolution, die wir in den Bereichen Energie, Mobilität, Ernährung und in vielen Industrien sehen werden, eigentlich auch eine neue Form der Partizipation von Menschen gestalten, indem wir sagen: „Jeder Mensch ist nicht gerne Opfer, sondern eigentlich möchte er mitgestalten, Erfahrungen, Meinungen, Wünsche mit einbringen.“ Und diesen Prozess zu gestalten, dafür brauchen wir wahrscheinlich noch ganz neue Formen der Demokratie.
Letzte Frage: Sie sind als Zukunftsforscher gedanklich ständig zwischen dem Status quo und einer Zukunft unterwegs. Wie motivieren Sie sich jeden Tag aufs Neue, weiterzumachen?
Das ist eine gute Frage. Sie haben mich durchschaut, ich bin ungeduldig. Häufig gibt es einen gewissen Frustrationsmoment, wo man sich morgens fragt: „Warum kapieren die Leute das nicht? Und warum dauert das so lange?“ Das hat aber mit dieser Ungeduld zu tun. Wenn man aber mal zurückschaut, wie es noch vor zehn Jahren im Vergleich zu heute aussah, dann muss man sagen: „Wow, wir haben ganz schön viel geschafft.“ Auch wenn man von Tag zu Tag eher frustriert ist – das hätte 2010 niemand geglaubt, dass wir jetzt knapp 50 Prozent unseres Stroms erneuerbar erzeugen. Wir sind schon auf einem ganz guten Weg. Und ich versuche, mich immer zu motivieren, indem ich ab und zu mal einen Schritt zurücktrete und mir sage: „Komm, sei nicht so ungeduldig, konzentriere dich auf das große Ganze.“
Selbst wenn es manchmal einen Schritt zurückgeht, macht man ein paar Tage später zwei Schritte nach vorn, und so kommt man auch voran. Die zweite Motivation ist: Ich glaube, es gab noch nie eine Zeit, in der es so viele Möglichkeiten der Mitgestaltung gab wie heute. Natürlich kann nicht jeder und jede so arbeiten, wie ich im Moment als Zukunftsforscher arbeite. Aber so im Kleinen kann man heutzutage sehr leicht Menschen finden, die ähnliche Ideen haben und mitmachen – in Form von sozialen Netzwerken, in Form von Initiativen, die es auf verschiedenen Ebenen gibt, wo man einfach bei Dingen, die einem wichtig sind, mitwirken kann. Und es gibt derzeit für Menschen, die offen für neue Ideen oder für Innovationen sind, unheimlich viele Chancen, Dinge auszuprobieren und dadurch zu wachsen. Man kann sich jeden Tag aufs Neue entscheiden, ob man die Mittagspause mit Kolleginnen und Kollegen verbringt oder ob man etwa zu einem Autohändler geht und sich für eine Stunde ein Elektroauto ausleiht, um zu erfahren, worüber man spricht. Ich würde jede und jeden ermutigen, Dinge aktiv zu testen anstatt nur in der Zeitung darüber zu lesen; einfach mal einen Tag der offenen Tür mitmachen und die Gelegenheit nutzen, etwas Neues kennenzulernen. Beim Spaziergang beispielsweise jemanden, der eine Solaranlage hat, fragen: „Wie war denn das? Wie haben Sie gebaut? Was verdienen Sie eigentlich mit der Anlage im Jahr? Haben Sie damit Probleme?“ Diese kindliche Neugier, die wir mal hatten, sollten wir auch in den 2020er-Jahren immer wieder an den Tag legen. Denn die macht letztlich glücklich. Ich bin sehr glücklich, dass ich sogar mein Auskommen damit verdiene, diese Neugier jeden Tag aufs Neue ausleben zu dürfen.
Interview: Dirk Kirchberg. Fotos: Jorma Müller (2), Shutterstock (5).
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